Mode schenkt uns märchenhafte Momente. Warum darauf verzichten?

Stoff für Märchen

Mode macht das Leben magischer. Warum das nicht nur in Märchen so ist, erfahrt ihr in meiner Stilkolumne. 

Nicole Geser über die Magie des Anziehens

Es war einmal vor langer, langer Zeit da herrschte eine Königin mit dem sonderlichen Namen „Stil“. Sie hatte ein frohes Herz und ward umso glücklicher wenn sie von Schönem umgeben war. So befahl sie ihren Untertanen: „Möget ihr euch jeden Tag so kleiden, als ob es euer letzter wäre.“ Und so geschah es.

Die Verwandlung

Die folgsamen Untertanen fanden Gefallen daran und kosteten dieses Glück aus. Bei Sonnenaufgang stellten sie sich vor, wer sie heute sein wollen und suchten sorgfältig ihre Kleider danach aus. Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt. Ob Mann, Frau, Kind oder verwunschenes Tier, jeder trug das, was das Beste in ihm hervorbrachte. Um den Schäfer im güldenen Mantel scharten sich die verzückten Schafe, der Köhler bezauberte mit ausgefallenen Hüten und die Totengräber trugen elegante Fräcke um ihre Brüder im Sinne von Stil zu verabschieden. Alle erfanden sich jeden Tag neu und keiner redete dem anderen drein. Selbst die Katzen trugen kleine Umhänge und versuchten sich damit im Kunstfliegen. Ein himmlisches Spektakel und ein Fest fürs Auge war das. Bald sprach sich herum, dass im Königreich von Stil die glücklichsten Bürger leben. Diese Nachricht drang auch zum bösen Magier mit dem Namen „Zweckmässig“.

Der faule Zauber

Magier Zweckmässig war ob dieser Ungeheuerlichkeit beunruhigt. Seit tausend Jahren tüftelte er an einem Zaubertrank, der die Bürger gleichgültig und bequem machen sollte. Es fehlten ihm dazu nur noch drei Schnurrbarthaare einer einäugigen Siamkatze. Da es im Stil-Reich von eleganten Siamkatzen – die gerade fliegen lernten – nur so wimmelte, entsandte er einen Gefolgen um eines dieser Flugwesen einzufangen. So gesprochen, so getan. Der Zaubertrank konnte endlich vollendet werden und das Unglück nahm seinen Lauf.

2022

Jeans, Turnschuhe, Parka. Im Sommer ohne Daunen. Im Winter mit. Besonders stillos mit „Deppenkragen“. Im schlimmsten Fall aus Echtpelz. Sieht man sich in der Stadt um, bestimmt Zweckmässigkeit das Strassenbild. Die Magie ist verloren gegangen. Hie und da blitzt sie auf. Es scheint Menschen zu geben, denen der Zaubertrank nichts anhaben kann. Sie zelebrieren die Lust an der Verwandlung. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann…

Kolumne für das Magazin «Für Sie» No.66/ Herbst 2022