Illustration des St.Galler Künstlers Beni Bischof
Jetzt oder nie
Wie schnell wir unsere Freiheiten verlieren können, haben die letzten Wochen während des Lockdowns gezeigt. Warum sich also bei der Garderobe einschränken, wenn es doch auch anders geht? Über späte, aber nicht zu späte Erkenntnisse wie diese, schreibe ich in meiner Stilkolumne im Magazin Für Sie.
Nicole Geser über selbstauferlegte Tabus
Während ich diese Kolumne schreibe, befinden wir uns in Woche vier des Lockdown.
Die Sonne scheint gutgelaunt als ob nichts wäre, und es regen sich nun langsam Bedürfnisse, die über das Lebensnotwendige hinausgehen. Aber schnell mal in die Lieblingsboutique spazieren und sich die heissen Shorts kaufen, die man schon seit Wochen im Schaufenster anschmachtet? Geht nicht. Sich ein paar blonde Strähnchen färben lassen, die fantastisch zu den Sommersprossen passen würden? Geht nicht. Einen Tisch im Lieblingsrestaurant reservieren und das 6-Gang-Überraschungsmenü schnabulieren? Geht nicht. Den Aerial Yoga Kurs besuchen, damit die Beine Shorts-tauglich werden? Geht nicht. Geht nicht. Geht nicht.
Zwei Monate vorher
„Guten Tag, ich bin das erste Mal in Ihrer Boutique und möchte nur etwas schauen.“ „Gerne!“, erwidere ich und gebe der Kundin Zeit, das Sortiment zu entdecken. Nach einer Weile hält sie ein Kleid von Isabel Marant hoch und seufzt. „Wunderschön, nicht?“, sage ich zustimmend und nähere mich ihr. Die Kundin: „Ein Traum – aber ich bin zu klein, um Kleider tragen zu können.“ „Aber es gibt doch für jede Grösse die richtige Länge“, will ich noch sagen aber da ist sie schon eine Kleiderstange weiter und betrachtet eine Bluse. „Hellblau macht mich ganz blass, aber an ihnen würde die sicher toll aussehen.“ Ich: „Nun hellblau gehört zu den Farben, die zu Dunkelhaarigen genauso wie….“ Die Kundin hat mich stehen gelassen und hebt die Slippers von Rejina Pyo auf. „Chic UND bequem“, sage ich überzeugt und strahle die Kundin an. „Wissen Sie, bei Schuhgrösse 39 sehen meine Füsse in flachen Schlappen wie Quadratlatschen aus.“
Die Frau beginnt mir leid zu tun. Ich versuche mir vorzustellen, wie traurig es sein muss, auf so vieles verzichten zu müssen. Obwohl man nicht muss.
Sommer 2021
„Guten Tag, ich war vor 15 Monaten das erste Mal in ihrer Boutique.“ Leider habe ich damals nichts gekauft, da ich dachte, die Sachen stünden mir nicht. Dann kam Corona.
Oft ist mir das fröhliche Kleid in den Sinn gekommen, welches ich gerne einfach so angezogen hätte. Die hellblaue Bluse hätte perfekt zu meinem vom Homeoffice blassen Gesicht gepasst. Und die Slippers, die wären um ein Zehnfaches schöner gewesen als die Adiletten, die als Finken herhalten mussten. Zeigen sie mir bitte die neue Kollektion, und dann probiere ich alles, was sie mir in die Umkleidekabine bringen. Wenn nicht jetzt, dann nie!